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Channel: Kollektivismus – anti-capitalism revisited
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Als ich noch nicht so müde und erschöpft war, habe ich manchmal mit „Querdenkern“ diskutiert

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Rede einer Krankenhausmitarbeiterin

auf der Mahnwache „Querdenkern“ in die Quere kommen – Schluss mit antisemitischem Verschwörungsgeraune! am 17. April 2021

[Text folgt unten]

Ich möchte ein bisschen davon erzählen, wie es ist, zur Zeit im Krankenhaus zu arbeiten – oder auch im Krankenhaus zu liegen.

Wer liegt denn da überhaupt? Was wir ja immer ganz genau wissen, ist wie viele Menschen in Deutschland mit Covid19 auf den Intensivstationen liegen. Gestern waren es 4740, in Baden-Württemberg 511. Davon wurden 2708 invasiv beatmet, in Baden-Würtemberg 280.

Die DIVI Vereinigung für Intensivmedizin erwartet, dass der bisherige Höchststand von 6000 Covid-Intensivpatienten noch im April wieder erreicht wird. Das Durchschnittsalter dieser Patienten liegt inzwischen bei 68 Jahren.

Was wir auch immer gleich dazu erfahren: für wie viele ist denn da noch Platz auf den Intensivstationen? Und dann sind wir besorgt oder erleichtert, je nachdem, wie viele Leute man noch beatmen könnte. Ein paar könnten wir noch. Aber wollen wir denn wirklich?

Wo wir doch inzwischen wissen, dass etwa 50 % der beatmeten Covid-Patienten versterben! Es kann nicht das Ziel sein, möglichst noch mehr Beatmungsplätze für noch mehr Menschen zu schaffen, die nur eine 50/50 Chance haben, diese Behandlung auch zu überleben. Stattdessen müssen wir doch verhindern, dass überhaupt so viele Menschen erkranken.

Zudem findet bereits die sogenannte weiche Triage statt – Patienten werden von der Intensivstation wegverlegt, die noch nicht richtig fit dafür sind, andere können nicht übernommen werden, Eingriffe werden verschoben.

Wovon man weniger hört: es liegen ja noch viel, viel mehr Patienten und Patientinnen mit Covid19 im Krankenhaus, nicht auf der Intensivstation, sondern auf den sogenannten Normalstationen. Deren Zahlen bekommen wir nicht täglich gesagt, aber tatsächlich sind überhaupt nur nur 14 % der Krankenhauspatienten mit Covid19 auf den Intensivstationen. Das heißt, 86 % liegen auf einer normalen Krankenhausstation. Sie müssen nicht beatmet werden, aber sie bekommen oft zusätzlichen Sauerstoff, sie husten und empfinden Luftnot, haben Fieber und oft Schmerzen, häufig sind auch Übelkeit und Durchfälle – kurz, vielen (wenn auch nicht allen) geht es schlecht. Sie sind meistens ansprechbar und körperlich stabil, aber es versterben natürlich auch Menschen auf diesen Stationen, z. B. wenn sie für sich ausgeschlossen haben, intensivmedizinisch behandelt zu werden.

Diese Leute auf den Normalstationen werden betreut von Pflegepersonal – hierfür gibt es keinen festgelegten Personalschlüssel. Mit viel Glück ist eine Pflegeperson für 5 Patientinnen zuständig, eher für 7, aber schon auch für 10, wenn z. B. von drei Kräften auf Station eine ausfällt. Bevor die Pflegenden ein Zimmer betreten, ziehen sie evtl einen weiteren Mund-Nasen-Schutz über ihre FFP-Maske, auf jeden Fall aber legen sie Schutzbrille oder Vollvisier an, OP-Haube, Schutzkittel und zwei Paar Handschuhe. Die Schutzkittel sind nicht den Pflegepersonen zugeordnet, sondern den Patientenzimmern. Das heißt, es ist nicht möglich, mal schnell in Zimmer 4 nach dem Rechten zu sehen, in Zimmer 6 Wasser nachzureichen, in Zimmer 10 zu schauen, warum der Patient geklingelt hat, der Kollegin in Zimmer 5 zur Hand gehen. Denn jedes Mal bedeutet das: Schutzausrüstung an- und wieder ausziehen. Nicht zu vergessen: dauernd klingelt das Telefon. Auf Krankenhausstationen klingelt ohnehin dauernd das Telefon, nun kommen noch viel mehr Anrufe von Angehörigen, die nicht zu den infizierten Patienten können und verständlicherweise Kontakt halten wollen.

Die FFP-Maske muss eigentlich die ganze Zeit aufbleiben – die ganze Zeit, nicht nur in den Patientenzimmern, sondern auf der ganzen Station, im Kontakt mit Kolleginnen, beim Dokumentieren, bei der Übergabe und so weiter. Keine Pflegekraft und keine Stationsärztin hat ein eigenes Büro. Wo also die Maske abnehmen, um einen Schluck zu trinken, vom Brötchen abzubeißen oder auch einfach nur die Maske eben mal abzunehmen, wie es laut Arbeitsschutz eigentlich vorgesehen wäre?

9000 Pflegekräfte, überwiegend in den Krankenhäusern, haben während der 1. Welle, also April bis Juli 2020, ihren Beruf verlassen. Inzwischen sind es noch viel mehr. Das führt zu noch geringeren Kapazitäten, aber auch der steigende Anteil an Covid-Patientinnen selbst führt dazu: schwerkranke Covid-Patienten sind maximal pflegeaufwändig, sie brauchen eigentlich 1:1-Betreuung. Um einen beatmeten schwer kranken Patienten in Bauchlage zu bringen, wie es oft therapeutisch angezeigt ist, braucht es 4 Fachkräfte. So verschärft sich nochmals der Pflegemangel, und die, die noch da sind, sind ausgelaugt und erschöpft.

Als ich noch nicht so müde und erschöpft war, habe ich manchmal im Internet mit sogenannten selbsternannten „Querdenkern“ diskutiert. Die haben immer gerne geschrieben, es sei weit und breit keine Pandemie zu sehen, sie selber kennen schließlich niemanden mit Corona. Ich kenne so viele, gern würde ich weniger kennen. Klar, vor allem Patientinnen und Patienten, aber auch Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde. Die sich letztes Jahr infiziert haben und noch nicht wieder arbeitsfähig sind. Die immer noch Schmerzen haben oder Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme oder 130 Puls vom Staubsaugen. Oder die zwar wieder arbeiten, aber dabei vor Anstrengung ganz verschwitzt sind und die Fehler machen. Die zu viel vergessen, sich nicht richtig interessieren oder engagieren können und einfach immer, immer müde sind. Die Angehörige angesteckt haben und darüber nicht hinweg kommen.

Aber ja, auch die Patienten. Die, die sowieso alt waren und gestorben wären, aber doch nicht jetzt schon! Die gut und gerne noch Jahre auskosten, diesen und den nächsten Sommer genießen, Enkel bespaßen, einfach leben hätten wollen und können. Die, die noch gar nicht so alt waren und es nun nicht mehr werden dürfen. Aber doch auch die, die nicht gestorben sind – rüstige Opas, stolze alleinstehende Damen, die bisher gut zurechtgekommen sind und die nun, nach der Erkrankung, dauerhaft auf Pflege angewiesen sind und vielleicht ins Pflegeheim müssen, weil sie zu kraftlos, zu verlangsamt und desorientiert sind – einfach nicht mehr der oder die Alte.

Von ihnen allen erzähle ich den sogenannten selbsternannten „Querdenkern“ im Internet natürlich nicht, denn das weiß ich ja: die Unfähigkeit, Mitgefühl mit dem Leid zu empfinden, das ich nicht unmittelbar erlebe – die fehlende Empathie also – die wird ja dadurch nicht besser, und ich kann auch einfach diese schrecklichen Lachsmileys nicht mehr ertragen.

Keine Lachsmileys mehr, kein Verhöhnen der Kranken und derer, die sich um sie kümmern, kein Verschwörungsgefasel und Erleuchtungsgetue – einfach Empathie, Solidarität und ein wirksamer Shutdown, damit nicht mehr so schrecklich viel gelitten und gestorben wird, bis dann endlich genug Menschen geimpft und geschützt sind. Und natürlich brauchen wir bessere Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal, nicht nur einen Corona-Bonus-Almosen, der nur bei einem kleinen Teil der Beschäftigten ankommt und überhaupt nichts am grundsätzlichen Problem ändert, dem durchkapitalisierten Vergütungssystem der Fallpauschalen mit ihrem hohen Verwaltungs- und Misstrauensaufwand und dem Anspruch, dass Krankenhäuser wirtschaftlich arbeiten müssen, anstatt die Vorhaltung von bedarfsnotwendigen Versorgungsangeboten zu berücksichtigen und die Notfallversorgung der Bevölkerung zu jeder Zeit sicherzustellen. Jetzt ist die Zeit, sich für all das einzusetzen – nicht gegen Rücksichtnahme und Infektionsschutz und eine imaginäre Weltverschwörung.

Siehe dazu auch: Menschenhass mit Grundgesetzfetisch. Warum die selbst ernannten „Querdenker“ in Wahrheit autoritäre Konformist*innen sind.


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